„Weichspüler“ und „Terroristenversteher“? - September 2004

Veröffentlicht: Dienstag, 26. Februar 2008 18:29
Diese - neunte - Nummer des Orient-Journals unterscheidet sich von den vorangegangenen. Hier geht es nicht in erster Linie um die wissenschaftliche Aufarbeitung einer politikbezogenen Themenstellung mit Blick auf den Nahen und Mittleren Osten oder Nordafrika. Es geht um die Verortung des Deutschen Orient-Instituts in der Diskussion um Gewalt und Terrorismus, die aus dem Islam heraus gerechtfertigt werden.

Die Lesarten islamistisch begründeter Gewalt in Deutschland liegen weit auseinander. Die einen sehen sich im Kriegszustand. Die Brutalität des Terrorakts von Beslan im September 2004 bestätigt ihnen einmal mehr, dass sich der Terrorismus gegen fundamentale Wertvorstellungen richtet, die dem weltweiten menschlichen Zusammenleben im 21. Jahrhundert zugrunde liegen. Tatsächlich ist nach dem Terrorakt des 11. September 2001 die Dimension des Konflikts in die Nähe eines „Dritten Weltkriegs“ gerückt worden. Dieser Einschätzung einer „islamistischen Herausforderung“ stehen jene diametral gegenüber, die in Terror und Gewalttätigkeit im wesentlichen eine Antwort auf eine Politik des Westens - und insbesondere seiner Vormacht, der USA – sehen, die ihrerseits von rücksichtsloser Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen, politischer - auch militärischer - Dominanz und der Praktizierung doppelter Standards gekennzeichnet ist. Islamistische Gewalttäter werden so zu einer islamischen Variante von Verlierern der Globalisierung.

Man muss nicht notwendig zu letzterer Spezies gehören, um in den Ruch der Blauäugigkeit, der Verharmlosung oder der „Terroristen-Versteher“ zu kommen. Wer aber hat die Deutungshoheit? Wenn es der Islam ist, der von Gewalttätern instrumentalisiert wird, dann können diejenigen nicht abtauchen, aber auch nicht überhört werden, die sich mit dieser Religion, ihren theologischen, historischen, kulturellen und aktuell-politischen Erscheinungsformen vertieft befassen. Die Wissenschaft vom Islam und der islamisch geprägten Welt muss riskieren, ihre Unschuld zu verlieren und den Elfenbeinturm zu verlassen, in dem sie sich lange eingerichtet hatte; und sie muss sich der Herausforderung stellen, die Geschehnisse zu erklären. Welches Risiko damit verbunden ist, spürt ein außeruniversitäres Institut noch unmittelbarer als die Kolleginnen und Kollegen, denen die Universität den sicheren Hafen der Freiheit der Wissenschaft gewährt.

Die nachfolgenden Beiträge sollen Varianten der Deutung anbieten. Dies mit zwei Zielsetzungen: der Differenzierung und der Öffnung von Räumen politischen Handelns als Reaktion auf ein Phänomen, das nicht wegdiskutiert werden kann: die Instrumentalisierung von Religion für politische Zwecke und zur Rechtfertigung von Gewalt und Terror.

Essentiell ist die Erkenntnis, dass es in der gewalthaften Begegnung nicht um einen Zusammenstoß von Kulturen oder Religionen geht. Die Herausforderung bleibt in ihrem Kern eine politische. Und die Lösung des Problems liegt im politischen Raum. Nach dem Ende des Ost-West-Problems sind politische Erblasten schärfer hervorgetreten als im internationalen System vergangener Jahrzehnte. Neue politische Herausforderungen sind hinzugekommen. Dies gilt im Prinzip für weite Teile der außereuropäischen Welt in Afrika und in Asien. Im Nahen und Mittleren Osten - und dazu gehört auch der Kaukasus - treten sie mit besonderer Dramatik zutage. Es liegt in bestimmten Wesenszügen der Religion, dass sich der Islam für die Mobilisierung von Konfliktparteien besonders „wirksam“ instrumentalisieren lässt. Aber noch einmal: Am Anfang des Problems steht die Politik - die Religion wird instrumentalisiert, wenn die Politik versagt, Lösungen zu schaffen. Die Extremisten, die ihre verquasten Ziele in der „Weltherrschaft des Islam“ oder der „Wiedererrichtung eines weltweiten Kalifats“ sehen, sind nur Trittbrettfahrer der Unfähigkeit (oder Unwilligkeit), die konkreten Probleme und Herausforderungen politisch zu lösen. Dass in diesem Zusammenhang der Krieg im Irak eine besonders unheilvolle Rolle spielt, liegt nur allzu deutlich auf der Hand.

Deshalb ist es auch wenig förderlich, das Konfliktgeschehen in der Gegenwart in die Dimension des „Dritten Weltkrieges“ zu stellen. Denn auf diese Weise tritt man in die Falle jener extremistischen Minderheit unter Muslimen, die sich ihrerseits in einer globalen Auseinandersetzung mit „dem Westen“ sehen. Die Weltkriegsdimension verwischt die dringend notwendige Differenzierung. Sie verstellt auch die Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit der über einer Milliarde Muslime zwischen dem Atlantik und dem Pazifik dringlich selbst die Lösung der Konflikte und Krisen und nicht zuletzt auch die Befreiung von politischen Regimen wünschen, die im 21. Jahrhundert unzeitgemäß geworden sind. Dies, um ihrerseits als Muslime an einer Moderne teilzuhaben, zu deren positiven Elementen es keine Alternative gibt.

Differenzierung aber tut auch Not, um den Frieden in unserer eigenen Gesellschaft nicht zu gefährden. Unabweisbar wird der Islam zu einer immer nachhaltigeren Facette der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Deutschland (und Europa). Dabei leben alle Erscheinungsformen von Muslimen, welche die islamische Welt selbst kennzeichnen, auch unter uns. Dazu gehören Extremisten; die überwältigende Mehrheit aber sucht – freilich ohne auf eine islamische Identität zu verzichten – an einer freiheitlichen Ordnung und den Chancen einer liberalen Wirtschaftsordnung teilzuhaben. Aus diesem Grund wurde auch ein Beitrag über die Kopftuchdebatte in einer Ausgabe des Orient-Journals aufgenommen, die sich die Verortung von Gewalt im Nahen Osten im Namen des Islam zum Thema gemacht hat.